New Brunswick
Neuer Monat und neue kanadische Provinz – New Brunswick – aber immer noch die Bay of Fundy. Diesmal locken uns die Flowerpots, skurrile Gesteinsformationen am Hopewell Cape, die das Meer in langer mühevoller Arbeit geschnitzt hat. Bei Ebbe bleibt viel Zeit, um ausgiebig auf dem Meeresgrund um die Türme herumzuspazieren, bei Flut erobern sich begeisterte Kajakfahrer das Gebiet und umkreisen die aus dem Wasser ragenden „Blumentöpfe“.
Entlang der Südküste machen wir einen Abstecher zum Fundy National Park. Hier versuchen wir am Point Wolfe auf einem Küstenwanderweg einen Blick auf das Meer zu erhaschen, aber dichter Nebel macht uns einen Strich durch die Rechnung. Ein weiterer Wanderweg bringt uns über steile Treppen und Holzstege durch dichten Wald an einem bemoosten Bachlauf entlang zu hübschen Wasserfällen.
Nach so viel Bewegung ist es nur gerecht, sich zu stärken. Zum Glück finden wir in dem netten Örtchen Alma, das „Tor“ zum Nationalpark, im Alma Lobster Shop leckere Lobster Rolls, Hotdog-Brötchen gefüllt mit ganz viel Hummer in Majonäse. Hmmm!
Auf dem Rückweg vom Nationalpark erreichen wir den Leuchtturm am Cape Enrage, hoch oben auf einer wellenumtosten Landzunge gelegen. Leider können wir dort nicht übernachten, aber ein Stück weiter finden wir unterhalb der Klippen einen schönen Kieselstrand, an dem wir eine einsame, stürmische Nacht verbringen, nur vom Klang des Nebelhorns begleitet.
Schon wechseln wir die Küste, treffen in Shediac, der selbsternannten Welthauptstadt des Hummers, auf ein übergroßes Exemplar, das sicher in zahlreichen Fotoalben verewigt ist. Der Ort selber wirkt geschäftig und etwas touristisch, hat unter anderem eine nette Einkaufsstraße mit kleinem Park und eine Marina, an der wir übernachten.
Ein paar Kilometer weiter erkunden wir in Bouctouche auf einem Boardwalk einen Teil der 12 Kilometer langen, unter Naturschutz stehenden Sanddüne. Der Ort an sich ist übersichtlich, das kleine teure akadische Museumsdorf verkneifen wir uns und den Farmers Market haben wir auch gerade verpasst. Also weiter nach Norden.
Auch die Ostküste kann mit einem Nationalpark aufwarten, hier können wir auf dem gut ausgebauten Radwegenetz im Kouchibouguac sogar unsere Räder zu ihrem ersten Einsatz bringen. Eine Mischung aus Strand, Dünen und hauptsächlich Wald umgibt uns im Schwarzbärenland. Zum Glück jedoch sind uns Bärenbegegnungen erspart geblieben. Ein bisschen mulmig war mir auf der Radtour schon, da wir auf dem Weg zum Nationalpark an einer Straße den lebenden Beweis gesehen haben, dass es Schwarzbären tatsächlich gibt.
Von dem Nationalpark aus machen wir einen großen Sprung, stoßen erst in Bathurst wieder auf die Küste und erreichen nach einer Fahrt entlang der Chaleur Bay durch endlos ineinander übergehende Dörfchen in Campbellton die Brücke, die uns in die Provinz Québec bringt.
Québec
War New Brunswick noch ein Paradebeispiel für Zweisprachigkeit einer Provinz – jedes, aber auch jedes Schild gibt Hinweise in Englisch und Französisch á la „rue harbour street“ -, haben wir in Québec das Gefühl, mit dem „Grenzübertritt“ in Frankreich gelandet zu sein, Englisch ist einfach nicht präsent. Da muss ich direkt im Oberstübchen nach dem kramen, was aus Schulzeiten noch an Französisch hängen geblieben ist.
Leider verwöhnt uns Québec nicht gerade mit schönem Wetter, so lassen wir den 800 Kilometer langen Umweg durch die Gaspésie aus und nehmen durch regennasse Landschaft den direkten Weg nach Matane. Hier legt die Fähre über den St.-Lorenz-Strom ab, die uns nach Baie-Comeau bringt, Startpunkt für die große Tour durch Labrador.
Drüben angekommen, schauen wir erst mal die Wettervorhersage für Labrador, und auch die sieht nicht verlockend aus. Deshalb beschließen wir, noch ein paar Tage abzuwarten und vertreiben uns die Zeit am Nordufer des St. Lorenz. Hier machen wir unsere erste richtige Reisebekanntschaft, Ruth und Fredy aus der Schweiz, die schon viele, viele Monate und Kilometer in Nordamerika unterwegs und gerade aus Neufundland und Labrador zurückgekehrt sind. Es wird ein gemütlicher Abend, denn unter Reisenden gibt es immer genug zu erzählen.
Da sie in Baie-Comeau einen Inspektionstermin für ihren Ford-Camper haben und wir noch Vorräte auffüllen müssen, vereinbaren wir ein Treffen in der Stadt und lernen bei der Gelegenheit Günter und Bettina kennen, die sich dort ebenfalls mit Fredy und Ruth verabredet haben. Auf einem netten Stellplatz direkt am Flussufer veranstalten wir unser erstes „Globetrottertreffen“, bis sich am nächsten Tag unsere Wege trennen.
Denn wir wollen jetzt endlich in den Norden starten, füllen Kühlschrank und Dieseltanks und machen uns auf. Die wichtigsten Informationen erhalten wir direkt per Straßenschild am Ortsausgang von Baie Comeau: Die nächsten 212 Kilometer bestehen aus Kurven und es gibt nur zwei Tankstellen auf der gesamten Strecke. Im Grunde sieht es für den Rest der insgesamt rund 2.300 Kilometer bis zur Fähre nach Neufundland nicht viel anders aus, aber für die Provinz Québec endet die Welt in Fermont, danach ist dann Labrador dran.
Dass die Schilder Recht behalten, können wir übrigens bestätigen. Felix arbeitet sich kräftig die kurvenreiche Straße in den Bergen rauf und runter, 12 % Steigung sind keine Seltenheit. Stephan leidet unter dem unablässigen Bremsen und Schalten, ich leide darunter, dass es auf der Strecke fast unmöglich ist, Fotostopps einzulegen. Dabei ist die Landschaft durchaus fotogen, Wälder, wohin man schaut und immer wieder kleine Seen oder Flüsse, die dazwischen aufblitzen. Hinter jeder Kurve und jedem Hügel eröffnen sich neue Ausblicke, mal nur bis zur nächsten Steigung, mal schweift der Blick in die Ferne.
Aber es gibt hier nicht nur Natur anzuschauen, sondern auch beeindruckende Technik. Eine riesige Umspannstation mitten im Nichts überrascht uns mit zahllosen Masten und Leitungen, eine der vielen Stromtrassen begleitet uns auf unserer weiteren Strecke nach Manic 5.
In Manic 5 stehen wir vor der in ihrer Bauart größten Staumauer der Welt, ein rd. 1,3 Kilometer langes imposantes Bauwerk aus Bögen und Streben. Hier nehmen wir an der kostenlosen Besucherführung teil, um uns das Generatorhaus mit seinen acht Turbinen und das Innenleben der Staumauer zeigen zu lassen. Bei einem Halt auf der Mauer können wir zum ersten Mal einen Blick auf den Stausee werfen. Am Abend erwartet uns eine Überraschung, denn von unserem Übernachtungsplatz aus haben wir einen wunderbaren Blick auf das im Dunkeln angestrahlte Bauwerk.
Weiter geht es auf der einzigen Straße in der endlosen Landschaft, die auf dem Teilstück bis Relais-Gabriel zwar nicht asphaltiert aber überraschend gut zu befahren ist. In Relais-Gabriel kommen wir gerade recht zur Mittagszeit an und gönnen uns eine Tomatensuppe im einzigen Truckstopp auf der sonst leeren Strecke bis Fermont.
Fermont ist unser nächstes großes Ziel Richtung Norden, genauer gesagt die Mine von Mont Wright. Hier wird im Tagebau Eisenerz gewonnen und auch hier wird neugierigen Besuchern eine kostenlose Führung angeboten. Im gelben Schulbus und mit Helm, Warnweste und Ohrstöpsel ausgestattet, werfen wir zuerst einen Blick in das enorme Loch, das mal ein Berg war, bevor wir in der Werkshalle die riesigen Kipplader aus nächster Nähe sehen, die allerorten in der Mine umherfahren. Den Abschluss bildet ein Besuch in der „Gesteinsmühle“, in der das abgetragene Geröll so lange aufwändig verarbeitet wird, bis am Ende das pure Eisenerzpulver übrig bleibt.
Ein paar Kilometer weiter treffen wir in Fermont ein weiteres Exemplar der Kipplader, zwar nicht unbedingt eines der größten, aber es reicht, um Felix ein paar Komplexe zu verschaffen.
Fermont ist in den Siebzigern als Arbeitersiedlung für die Eisenerzmine errichtet worden und hat eine architektonische Besonderheit, wenn auch nicht Schönheit: le mur-écran. Als Schutz vor den eisigen Nordwinden ist ein 1,3 Kilometer langer Gebäudekomplex errichtet worden, der neben 340 Wohnungen alle Infrastruktur der Stadt beherbergt. Schwimmbad, Schulen, Geschäftsviertel, Rathaus, Bücherei, Krankenhaus und mehr, alles unter einem Dach. Eine Stadt in einem Haus, sozusagen. Doch sicher hat der Ort lebhaftere Zeiten hinter sich, die menschenleeren, schmucklosen Gänge im 70er-Jahre-Stil wirken leicht skurril und gruselig. Auf der Südseite sammeln sich im Windschatten die einfachen Reihen- und Einfamilienhäuser der Minenarbeiter, und schon ist der Ort fast komplett.
Kurz hinter Fermont passieren wir dann das große Schild, das uns in der Provinz Neufundland und Labrador willkommen heißt, dem „Big Land“.
Labrador
Und Labrador ist wahrlich groß. Solange die Straße links und rechts von Wald gesäumt ist, fällt die Abgeschiedenheit gar nicht einmal so sehr auf. Doch dort, wo sich die Aussicht in die Ferne bietet und der Blick hin und wieder über die Berge und Täler schweifen kann, wird uns erst richtig bewusst, wie unendlich groß das Land ist und dass dieses einzige dünne Band namens Trans-Labrador-Highway in dieser Landschaft wirklich ein Nichts ist.
Richtig einsam und verlassen fühlen wir uns jedoch nicht, denn auf der einspurigen Asphaltstraße ist für unsere Begriffe erstaunlich viel Verkehr, insbesondere Lastkraftwagen begegnen uns immer wieder. Ist aber eigentlich auch nicht verwunderlich, denn es gibt für die wenigen Orte in Labrador nur diese eine Landverbindung.
Wie wichtig diese Verbindung ist, merken wir an den zahlreichen Baustellen, die wir immer wieder passieren. Überall wird gewerkelt und ausgebessert, es muss noch viel gerichtet werden, bevor der nächste Winter einsetzt.
Aber nicht nur auf der Straße wird gebaut, sondern auch daneben. Neue Staudammprojekte entstehen und die erforderliche Infrastruktur ist gerade im Aufbau. Strommasten werden gesetzt und Trassen gezogen, begleiten über weite Strecken den Highway.
Die Zuwege zu den Baustellen oder auch die Abzweigungen zu den vielen Steinbrüchen sind oftmals die einzige Möglichkeit für uns, mal von der Straße abzufahren, denn der Highway schlängelt sich auf einem teils recht hohen Damm durch die Landschaft, die wir deshalb meist nur vom Fahrerhaus aus erleben. Den direkten Zugang zur Natur, vor allem zu den zahlreichen Seen und Flüssen, vermissen wir schon ein wenig, aber auch hier zeigt sich, dass die Straße eben nicht für Touristen als Aussichts- und Erlebnisroute gebaut wurde, sondern als Versorgungsstrecke schlicht Mittel zum Zweck ist.
Nichtsdestotrotz gefallen uns das Land und die Weite. Manche würden die Strecke vielleicht als eintönig bezeichnen, aber wir mögen die Fahrt durch endlose Wälder und von Wasserflächen durchzogene Sumpflandschaften, die für uns immer wieder neue Ausblicke bereit halten und nur alle paar Hundert Kilometer von einem Ort unterbrochen werden. So lassen wir uns Zeit und übernachten auch mal in aller Einsamkeit mitten im Nichts.
Gleich hinter der Grenze nach Labrador kommen wir in „Lab City“, wie Labrador City knapp genannt wird, an. Die Stadt ist zwar übersichtlich in der Größe, dabei aber recht nett gestaltet. Ein paar Kirchen, ein paar Schulen, Rathaus mit Feuerwache, Bücherei und kleine Ladenzentren, die Lebensmittelgeschäfte, Baumarkt und einiges an Kleingewerbe beherbergen, bilden den Ortskern. Drumherum reihen sich die Einfamilienhäuser in kleinen Siedlungen.
Generell scheint der Osten Kanadas mit so viel Land gesegnet, dass für jeden, der ein Haus bauen will, genug Platz vorhanden ist. An Mehrfamilien- oder gar Hochhäuser braucht hier niemand zu denken.
Rund 45 Kilometer hinter Lab City schlagen wir im wohl einzigen Campingplatz weit und breit, Grande Hermine, für zwei Tage unser Lager auf, leider nicht nur zum Ausruhen. Zur Belohnung nach getaner Arbeit schwimmen wir eine Runde im See, erst bibbernd, dann mit Begeisterung. Schwimmen in LABRADOR! Die Tage am See beschließen wir angemessen mit unserem ersten Lagerfeuer.
Churchill Falls ist der kleinste Ort entlang des Trans-Labrador-Highways, der einzige zwischen Labrador City und Goose Bay und nur aufgrund eines der weltgrößten unterirdischen Wasserkraftwerke entstanden, das sich das Gefälle des Churchill Rivers zunutze macht. Leider findet sich unter den vielen Mitarbeitern zurzeit keiner, der die Besucherführungen fortsetzt, jedenfalls ist das Kraftwerk seit diesem Sommer nicht mehr zu besichtigen.
Der Ort besteht aus einer großen einfachen Arbeitersiedlung, ein bisschen Kleingewerbe und einem großen Gebäudekomplex, der – ähnlich wie in Fermont – die kommunale Infrastruktur mit Lebensmittelladen, Post, Bücherei, Stadthotel und Schulen beherbergt. Wir bekommen den Tipp, dass das ebenfalls dort untergebrachte Hallenbad für alle kostenfrei ist, da gehen wir doch gerne ein zweites Mal in Labrador schwimmen.
Ca. 80 km vor Goose Bay lockt uns ein zufällig entdecktes Hinweisschild von der Straße auf eine Schotterpiste und wir landen auf einer riesigen, goldsandigen Lichtung mit Blick in die umgebenden Wälder. Hier bleiben wir für die Nacht, zünden ein großes Lagerfeuer und gucken in der Einsamkeit Sterne.
Wie wir später herausfinden, ist dort ein Staudammprojekt in Planung, nur geht es damit noch nicht recht voran. Gut so, denn damit bleibt das wunderbare Fleckchen noch etwas länger erhalten. Die laut Reiseführer schönen Muskrat-Wasserfälle des Churchill Rivers, ein Stück näher an Goose Bay gelegen, sind bereits einem aktuellen Bauprojekt zum Opfer gefallen. So wird Nordamerikas nicht endender Hunger nach Energie die Landschaft in Labrador weiterhin verändern und prägen.
Mit Happy Valley – Goose Bay erreichen wir schließlich unser erstes großes Etappenziel und das Ende der Asphaltstraße quer durch Labrador.
Happy Valley ist in diesem Doppelgespann der eigentliche Wohnort und bietet alles Nötige an Geschäften und Infrastruktur. Hier können wir unsere Vorräte auffüllen, ein bisschen durch die im Wald verstreuten Wohnsiedlungen radeln und am Ufer des Churchill Rivers über Nacht stehen.
Goose Bay besteht hingegen im Wesentlichen aus der Airbase, die von Militärunterkünften und –einrichtungen umgeben ist. Früher war hier wohl richtig viel Betrieb, die NATO nutzte die Abgeschiedenheit und große Leere der Gegend u. a. für Tiefflugübungen. Heute werden die Einrichtungen nur noch zeitweise genutzt, stehen oft – wie auch jetzt – leer. Und trotzdem brennt auf den Fluren der Bundeswehr-Baracken Licht, wie Stephan empört feststellt! Wie wir später erfahren, hat der Bund sich zu Zeiten des kalten Krieges vertraglich verpflichtet, den Standort für mehrere Jahrzehnte zu pachten und zu betreiben. So wird weiterhin viel Geld investiert, um kaum genutzte Gebäude und Einrichtungen in Schuss zu halten.
Von Happy Valley aus ist der nordöstlichste Ort in Labrador, der per Auto zu erreichen ist, North West River, nicht fern. Der kleine Ort hat gleich drei Attraktionen: das Interpretation Center über die Kultur der Innu und Inuit, das Heritage Museum in einem rekonstruierten Laden der Hudson´s Bay Company über die Zeiten der Trapper und den Aussichtsberg Sunday Hill, der einen tollen Blick auf die umgebenden großen Seen bietet.
Dort oben treffen wir Ingo und Elvira aus der Schweiz mit Hund Perla und ihrem VW-Bulli. Den Abend verbringen wir gemeinsam draußen vor den Wagen, eingemummelt in Decken und sogar mit einem Hauch von Polarlicht über uns.
Hinter Happy Valley – Goose Bay beginnt nun der Streckenabschnitt, von dem uns schon alle unsere bisherigen Reisebekannten nur „das Beste“ erzählt haben. Hier erwartet uns, nachdem der Trans-Labrador-Highway in den letzten Jahren fast vollständig asphaltiert wurde, die letzte Schotterpiste, die über hunderte Kilometer bis zur Südostküste Labradors führt. Für diese Strecke mit allen Abstechern wollen wir uns insgesamt einige Tage Zeit lassen.
Und so machen wir uns am Monatsende rumpelnd und holpernd auf den Weg, mit einer gemächlichen Durchschnittsgeschwindigkeit von 30 km/h, durch nicht enden wollende Schlaglöcher, die nicht nur Felix kräftig durchrütteln. Mitten durch menschenleeres Land, begleitet von einem ständigen Wechsel zwischen niedrigem Wald und karger, von Bachläufen und Tümpeln durchzogener Tundra. Bis wir mitten im Nichts und im dicksten Regen den Reisemonat August beenden. Aber noch lange nicht die Strecke bis zur Küste Labradors…